Zurück am Gipfel
Sympathisch lachend und voller Energie betritt Dr. Roland Kuster die Ambulante Reha St.Gallen. Schon seit ein paar Jahren kommt der ehemals Leitende Arzt der Thoraxchirurgie des Inselspitals Bern regelmässig hierher – nicht als Mediziner, sondern als Patient. Ein schwerer Unfall beim alpinen Klettern am Gletscher des Tödi hat Roland Kuster plötzlich aus seinem beruflich und sportlich aktiven Leben gerissen.
Beruflich immer auf der Höhe
Nach seinem Medizinstudium und einem kurzen Ausflug in die Innere Medizin wurde Roland Kuster klar, dass seine Zukunft in der Chirurgie liegen würde. Begonnen im Spital Grabs, dann weiter für drei Jahre nach Schaffhausen, bis ihn sein Weg ans Kantonsspital St.Gallen führte. Dort verbrachte er zehn, wie er sagt, sehr intensive Jahre. Diese nutzte er für eine medizin-fachliche Weiterbildung im Bereich Allgemein- und Unfallchirurgie, er machte seinen FMH-Titel in Chirurgie und bildete sich fort im Bereich Gefäss- und Thoraxchirurgie. Zu all dem nutzte er die wenig verbleibende Zeit, um ein betriebswirtschaftliches Studium zum Spitalmanager abzuschliessen – was, wie sich später zeigen sollte, eine weise Entscheidung war.
Zeit für Veränderung
Nach dieser intensiven Zeit merkte Roland Kuster, dass er bereit war, sich beruflich nochmals zu verändern. So zog der verheiratete Familienvater mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen aus dem schönen St.Galler Land nach Bern und nahm dort am Inselspital die Herausforderung an, als Leitender Arzt in der Thoraxchirurgie tätig zu werden. Auf die Frage, wo denn der für ihn schönere Ort sei, im kleinen feinen Regionalspital in Grabs, im zukunftsorientierten Kantonsspital St.Gallen oder in der grossen, hochwissenschaftlichen Universitätsklinik, antwortet er bestimmt: «Ich bin ein Mensch, der immer nur nach vorne schaut, niemals zurück.» Roland Kuster fühlt sich sehr wohl in Bern, auch wenn er immer wieder gerne den Weg nach St.Gallen findet.
Herausforderung: ein Leben mit 200 Prozent
Ein Leben mit 200 Prozent. Beruflich und privat. «Herausforderungen bestimmten mein Leben», so Kuster. Für ihn war nichts langweiliger als das, was man bereits kennt oder kann und er suchte immer wieder eine neue Aufgabe, die ihn forderte. Im Beruf bedeutete das tagsüber die hohe Belastung als Chirurg und zwischen den Operationen oder auch nachts die Arbeit im Spitalmanagement. Trotz dieser Phase höchster Intensität lieferte er als Chirurg stets höchste Qualität. Sein zweiter Berufswunsch wäre Pilot gewesen. Aus dem Flugwesen hat er das Briefing vor und nach dem Start in die Chirurgie mit eingeführt. CIRS «Critical Incident Reporting System» – kurz, das Lernen aus Zwischenfällen. Genauso wie der Pilot nur dann fliegt, wenn er sich topfit fühlt, soll auch der Chirurg nur dann das Skalpell in die Hand nehmen. Ein gutes Zeitmanagement hat ihm als Familienvater geholfen. Die Familienzeit an freien Wochenenden war ihm heilig, er war dann voll und ganz für die Familie da und konnte sich dort immer gut von den beruflichen Herausforderungen abgrenzen. Er wäre nicht Roland Kuster, würde er nicht auch bei seinen privaten Hobbys immer nur Vollgas geben. Er hat sich schon immer gerne bewusst Risiken ausgesetzt, sei es beim schnellen Skifahren, beim alpinen Wandern oder Klettern. «Ich liebe das Erleben der dritten Dimension in der Höhe, das fasziniert mich am Bergsport», erklärt er.
Zäsur im Leben
Der 16. Juli 2014 ist eine harte Zäsur im Leben von Roland Kuster. Sein Sohn und er kamen um 9.30 Uhr auf dem Gipfel des Tödi an, ein vergletschter Berg, den die beiden von der Bündner Seite her über die Porta da Gliems erfolgreich bestiegen hatten. In der Erinnerung des Mediziners ein aussergewöhnlich schöner Tag. Nach der geglückten Gipfelbesteigung begannen sie schon fast euphorisch den Abstieg und begingen eine Schneepassage. Doch dann griffen plötzlich die Steigeisen nicht und Kuster stürzte eine 300 bis 400 Meter lange Eisrinne hinunter. Der dramatische Sturz dauerte mehr als eine Minute und liess ihn 10 bis 15 Mal immer wieder erneut aufschlagen.
Rettung durch den Sohn
Sein Sohn musste den Absturz mitansehen und war sich fast sicher, dass sein Vater dies nicht überlebt haben konnte. Er war zunächst vor Schreck wie gelähmt und bewegungsunfähig. Als er aber sah, dass sein Vater sich bewegte, war er sofort wieder aktiviert und es gelang ihm, zum Vater zu klettern und die Rega-Flugrettung zu alarmieren. Sein Sohn erzählt, dass sein Vater in dieser Situation noch geredet hat – er selbst kann sich an die folgenden drei Tage nach dem Absturz nicht mehr erinnern. Mit Seilwinde gerettet und direkt ins Spital nach Chur geflogen, begann nun eine sehr intensive Zeit für Roland Kuster. Eine lange Zeit der Genesung und Rehabilitation.
Walzenhausen – ein Balkon über dem Bodensee
Als er gefragt wurde, wo er denn nach seinem stationären Aufenthalt im Churer Spital die neurologische Rehabilitation absolvieren möchte, fiel ihm sofort die schöne Broschüre der Rheinburg-Klinik in Walzenhausen ein, die er – damals noch als zuweisender Arzt – jährlich zugeschickt bekam. Ihm war klar, dies sollte der Ort seiner weiteren Genesung sein. Das gesamte Team der Rheinburg-Klinik hat er in allerbester Erinnerung. Lachend erzählt er: «Über eine Woche lang habe ich den Patientenfragebogen mit mir herumgetragen, da ich doch sicher war, ich würde einen negativen Punkt finden. Am Ende der Woche habe ich ihn leer abgegeben. Es war einfach alles gut.»
Im Mittelpunkt stand für das Rehabilitationsteam die Frage, ob Roland Kuster jemals wieder als Chirurg arbeiten könnte. Eine Frage, die er sich selber nie gestellt hat. Er war von Anfang an davon überzeugt, auch diese Herausforderung zu meistern. Er erinnert sich: «Mir wurde ein Stück Fleisch aus der Küche und chirurgisches Nähmaterial gebracht, damit ich wieder Nähen und Knüpfen üben kann.» Schmunzelnd berichtet er, dass die Stationsleiterin Pflege ganz überrascht war, wie gut er von Anfang an wieder nähen konnte. Das Engagement aller im Rehabilitationsteam ist ihm im Herzen geblieben.
Ambulante Weiterbehandlung
Doch auch nach dem langen stationären Aufenthalt in Walzenhausen war die Phase der Rehabilitation noch nicht zu Ende. Die Weiterbehandlung übernahm das Team der Ambulanten Reha St.Gallen. Zu Beginn ging er mehrmals in der Woche zur Physiotherapie, Ergotherapie und Neuropsychologie. Hier fühlte er sich wohl, hier fühlte er sich verstanden und unterstützt. «Als Patient mit neurologischer Hirnschädigung ist man komplett überfordert. Man braucht die Stütze und den Halt der Familie, muss auf seine eigenen Ressourcen zurückgreifen und braucht vor allen Dingen professionelle Begleitung», sinniert Kuster. Er sagt ganz klar, dass man, um mit einem Menschen, der kognitiv eingeschränkt ist, richtig umgehen und ihn adäquat unterstützen zu können, ein Profi sein muss.
Lobend erwähnt er, dass er beim Team des «Ambi St.Gallen» genau dies gefunden hat: Professionelle Betreuung und Hilfe auf höchstem Niveau, Empathie und Hingabe, die ihresgleichen suchen. Die individuell abgestimmte, interdisziplinäre Rehabilitation sowohl in der Rheinburg Klinik als auch in der Ambulanten Reha St.Gallen hat ihn wieder zurück auf die Höhe begleitet und ihn auch bewegt, immer wieder sich selbst zu hinterfragen und sein Leben sorgsamer zu gestalten. Roland Kuster ist sicher: «In der Rehabilitation ist Beziehung alles. Die Kunst ist, ehrlich zu sein, aber die Patienten nicht zu brechen; Laien sind hiermit überfordert.» Vor allen Dingen die neuropsychologische Therapie hat ihn tief beeindruckt. Lächelnd sagt er: «Neuropsychologie, das ist doch Wahnsinn – wahnsinnig gut.»
Ein paar Jahre später
Einige Jahre nach dem schweren Unfall treffen wir Roland Kuster wieder in der Ambulanten Reha St.Gallen. Die neuropsychologische Therapie hilft ihm nach wie vor bei der Verarbeitung des Geschehenen: «Ich mache regelmässig weiter mit der ambulanten Therapie, zwar in grösseren Abständen als zu Beginn, aber ich merke, sie bringt mir persönlich immer noch sehr viel. Sie hilft mir beim intellektuellen Verstehen. Seit diesem Knock-Out fühle ich mich teils wie in einem Nebel, ein Nebel, der mein Bewusstsein wie eine Hülle umgibt. Er lichtet sich aber immer mehr, denn mein Selbstbewusstsein gewinnt an Stärke, auch wenn die Erholung weh tut – wenn einem bewusst wird, was nun nicht mehr so gut geht.» Dr. Kuster sieht aber auch eine neue Welt, eine Welt, die vor dem Unfall durch permanenten Leistungsdruck verborgen war.
Sein emotionales Verständnis findet er in spiritueller Auseinandersetzung mit Gott. Er hat angefangen zu meditieren und macht wieder viel Sport. Allein in einem Jahr ist er gute 4000 Kilometer gelaufen und gewandert, hat schon zwei Halbmarathons hinter sich und trainiert weiter. Ob Roland Kuster beim Entscheid, ein zweites Studium im Spitalmanagement zu absolvieren, bereits eine Vorahnung hatte? Wohl kaum. Aber dank seinem Abschluss «Executive Master of Health Service Administration» an der FH St.Gallen, konnte er am Inselspital Bern bleiben und zwar vollamtlich als Klinikmanager der Universitätsklinik für Thoraxchirurgie und Koordinator des Universitären Lungenkrebszentrums. Und er wäre nicht Roland Kuster, hätte er nicht immer einen greifbaren Plan B.